Anlässlich der bundesweiten 23. Aktionswoche Schuldnerberatung vom 30. Mai bis 03. Juni 2022 warnt die Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung Berlin e.V. (LAGSIB) angesichts der dramatisch steigenden Energie- und Lebensmittelpreise sowie einer Inflationsrate in Höhe von 7,4 % vor verheerenden Folgen für viele Berlinerinnen und Berlinern. Das Motto der diesjährigen Aktionswoche „…und plötzlich überschuldet“ umschreibt treffend die aktuelle Lage, die immer mehr einkommensschwachen Menschen droht. Eine heftige Nachzahlung, Abschlagszahlung beim Energieversorger, Krankheit oder verringertes Einkommen wegen Kurzarbeit können leicht zur finanziellen Notlage führen und alles aus dem Gleichgewicht bringen…und plötzlich ist man überschuldet.
Stark steigende Energiepreise, rasant steigende Lebensmittelpreise – das belastet alle. Allerdings sind einkommensarme Menschen noch deutlich stärker als Menschen mit einem mittleren oder hohen Einkommen betroffen. Das ist leicht gesagt und schon vielfach beklagt worden, aber was bedeutet das eigentlich für Betroffene in ihrer Lebenswirklichkeit?
Diese Frage beantwortet Susanne Wilkening aus der Praxis unserer AWO Schuldnerberatungsstelle in Kreuzberg, indem sie 2 echte Fall-Beispiele schildert
Frau M. ist alleinerziehend mit 2 minderjährigen Kindern. Sie hat ein Arbeitseinkommen aus Teilzeittätigkeit, Kindergeld, Wohngeld. Frau M. sitzt in der Beratung, wir sprechen über die bestehenden Schulden, aber ihr liegt momentan etwas ganz anderes auf der Seele: Sie schildert, dass sie wirklich Angst vor den demnächst anstehenden Jahresabrechnungen ihres Strom- und ihres Gasanbieters hat, sie könne oft nicht mehr schlafen deshalb. Sie hat viel gelesen über die rasant gestiegenen Energiepreise und weiß, dass die Jahresabrechnungen dieses Jahr sehr hoch ausfallen könnten. Da die monatlichen Abschläge auf Vorjahresniveau festgelegt worden, decken sie die zwischenzeitlichen Preissteigerungen bei weitem nicht ab. Wie soll sie zwei hohe Abrechnungen bzw. Nachforderungen, dazu dann neu festgelegte deutlich höhere Monatsabschläge bezahlen? Die Familie kommt schon jetzt kaum über die Runden, die Preise im Supermarkt sind ja auch stark gestiegen, sie kauft schon jetzt deutlich weniger frisches Obst, Gemüse, Milchprodukte. Anschaffungen wie z. B. neue Bekleidung für die Kinder oder sich selbst schiebt sie so lange wie möglich auf. Die Kinder beschweren sich, aber Frau M. kann mit den 7- und 9-jährigen Kindern nicht über ihre schwierige wirtschaftliche Lage sprechen, es belastet sie zu sehr.
Herr K. ist Rentner, er erhält eine geringe Rente. Er hat Schulden, für die eine Lösung gefunden wurde, er zahlt monatlich 50 € ab. Herr K. erzählt, dass er jetzt nur noch zum Discounter geht und spart, wo er kann. Er führt jeden Tag ein Haushaltsbuch, in das er jede einzelne Ausgabe einträgt. Trotz seiner Sparbemühungen muss er sich momentan noch mehr einschränken, weil seine monatlichen Energieabschläge nach Erhalt der Jahresabrechnung sich fast verdoppelt haben, auf die Nachforderung von 490 € zahlt er jetzt ebenfalls Raten. Zurzeit fragt er sich, ob er die monatlichen Raten zum Abtrag der übrigen Schulden weiter leisten kann oder einstellen muss. Eine Nebentätigkeit kann er nicht ausüben, weil er fast 81 Jahre alt ist, das schafft er nicht. Aber er macht sich jeden Tag Sorgen: Wie soll er das alles stemmen?
Plötzliche Überschuldung bedeutet ohne Beratung und Hilfe für Betroffene sich in einem Teufelskreis aus Forderungen, Schuldgefühlen, Scham und Angst vor einer Verurteilung durch Freunde, Familie oder Kollegen wiederzufinden. So etwas kann krankmachen. Das Vorurteil, dass Schulden selbstverschuldet durch den eigenen schlechten Umgang mit Geld versursacht werden, führt zudem gesellschaftlich zu einer Isolation der Betroffenen.
Rund 1,8 Millionen Kinder in Deutschland leben (=Stand 11/2021) in einem Haushalt, der Grundsicherung für Arbeitssuchende bezogen hat. 45 % dieser Kinder leben in Alleinerziehenden-Familien. Die Inflationsrate lag im März 2022 bei +7,3 %. Die Preise für Waren insgesamt erhöhten sich von März 2021 bis März 2022 um 12,3 % (Quelle: Statistisches Bundesamt).
Demnächst bekommen die meisten der Berliner Haushalte ihre Jahresabrechnung für Strom und Gas. Wer das nicht aus dem eigenen Einkommen oder aus finanziellen Rücklagen zahlen kann, wird enorm unter Druck geraten. Die Regelsätze im Jobcenter- und Sozialhilfe-Bereich decken die enorm gestiegenen aktuellen Kosten z. B. für Lebensmittel nicht ab. Auch erreichen die Leistungen aus dem Entlastungspaket der Bundesregierung manche Gruppen gar nicht, wie z.B. nichterwerbstätige Renter:innen. Auch für Kund:innen des Jobcenters, deren Mieten nicht (mehr) als angemessen gelten, die also erhebliche Anteile von Mietkosten ohnehin schon aus dem Regelsatz selbst finanzieren müssen, entstehen demnächst erhebliche Probleme, denn die vermutlich erheblichen Jahresabrechnungen der Vermietungsgesellschaften zu Heiz- und Betriebskosten werden in ihren Fällen gar nicht vom Jobcenter übernommen.
Frau Wilkening macht darauf aufmerksam, dass hier erhebliche soziale Schieflagen entstehen, denen entgegengewirkt werden müsste. Wie zahlreiche Sozialverbände oder auch die Linkspartei fordert die AWO deswegen von der neuen Bundesregierung einen Zuschlag bei der Grundsicherung, der über das im Ampel-Koalitionsvertrag Vereinbarte hinausgeht und die Preissteigerungen abfedert.
Die LAGSIB fordert die Bestandssicherung und den Ausbau der Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen in der Hauptstadt, um dem hohen Bedarf an Beratung gerecht werden zu können. Die Soziale Schuldner- und Insolvenzberatung hilft Menschen in ihren individuellen Krisen, multiplen Problemlagen und Sorgen. Sie stärkt die familiäre, soziale und gesundheitliche Situation von Betroffenen mit dem Ziel, die Existenz zu sicher und die Schulden zu regulieren. So kann die persönliche wirtschaftliche Handlungsfähigkeit wieder hergestellt werden.
Konkrete Vorschläge finden sich z. B. auch in einem offenen Brief von Tacheles e. V. an Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD): https://tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/offener-brief-an-herrn-arbeits-und-sozialminister-hubertus-heil-und-das-bmas-massnahmen-zur-abwendung-von-energiearmut-bisher-unbekannten-ausmasses.html
Allerdings: Es eilt. Die Schwächsten unserer Gesellschaft brauchen jetzt Hilfe und Unterstützung.